„Wir gucken uns das erstmal an“,
Zum Fechten kam Aiga Weiß eher zufällig. „Wir gucken uns das erstmal an“, hatten Aiga und ihr Vater Steffen Weiß gesagt. Sie hatten von einer Kooperation des TSG Reutlingen mit dem Frühchenverein erfahren, einem Fecht-Workshop für Rollstuhlfahrer, den Simone Briese-Baetke, leitete. Simone Briese-Baetke sitzt ebenfalls seit ein paar Jahren im Rollstuhl und hat seitdem Gold, Silber und Bronze bei Landes-, Europa-, Weltmeisterschaften und bei den Paralympischen Spielen 2012 und 2013 gewonnen.
Aiga kam und blieb. Nach einer Stunde Probetraining sagte sie zu ihrem Vater „Papa, du kannst gehen. Ich bleibe.“
sagten Aiga Weiß und ihr Vater Steffen.
Sie trainiert seitdem regelmäßig und hat das Zeug, im kommenden Jahr an der Deutschen Meisterschaft teilzunehmen. Aiga Weiß ist als „Frühchen“ in der 28. Schwangerschaftswoche zur Welt gekommen. „Frühchen sind Kämpfernaturen“, sind sich Eltern, Trainerin und die Vorsitzende des Vereins „Frühchen“, Sabine Dörr, einig. „Ohne diese Kraft hätten sie nicht einmal die ersten Hürden ihres Lebens geschafft.“ Sport sei für die zähen Frühchen mit ihrem unbändigen Durchsetzungswillen genau das Richtige.
Aiga und ihr Zwillingsbruder wurden in der 28. SSW geboren.
Aiga Weiß hatte keinen leichten Start. Ihre Eltern freuten sich auf Zwillinge, als die Schwangerschaft in der 28. Woche dann viel zu früh zu Ende war. Die Kinder sollten per Kaiserschnitt geholt werden. Birgit Weiß lag unter Narkose und erfuhr erst sehr viel später, dass da ein Baby fehlte, als die Ärzte den Bauch geöffnet hatten. In der Gebärmutter lag ihr kleines Brüderchen. Aiga war „irgendwie rausgefallen“. Was genau da passiert war, das weiß die Familie Weiß auch heute noch nicht so genau.
Aiga war den Ärzten während der Geburt auf den Boden gefallen.
Baby Aigas Gehirn war bei dem Sturz auf den Boden vermutlich mit zu wenig Sauerstoff versorgt worden. So vermuten Ärzte die Ursache für Aigas Entwicklungsverzögerung, ihre Probleme, die Beine koordiniert zu bewegen.
1100 Gramm wog jeder Zwilling damals. Aigas Zwillingsbruder entwickelte sich relativ normal. Zwar war seine Entwicklung anfangs auch ein bisschen verzögert, wie es bei Frühchen oft der Fall ist, holte das aber dann doch im Laufe der Zeit wieder auf.
Er habe aber auch kämpfen müssen. Anders. Auf seine Weise. „Auch wenn es nur darum geht, ausgegrenzt zu werden“, sagt der Vater. „Ein zäher Wille gehört dazu.“
Aiga musste lange beatmet werden, hatte zweimal in zwei aufeinanderfolgenden Nächten mit einem Lungenriss zu kämpfen und war dadurch in Ihrer Entwicklung sehr viel langsamer. Sie hatte sich nicht wie andere Kinder gedreht, nicht hochgezogen, nicht im Vierfüßlerstand vorwärtsbewegt und lief nicht.
Heute macht der Sport sie glücklich.
Frühchen werden mit Untergewicht geboren. Aiga lag vier Wochen im künstlichen Koma. Den Ehrgeiz, den sie damals aufgebracht hat, um zu überleben, hat sie seitdem immer wieder bewiesen. „Sie hat sich alles selbst erarbeitet“, sagt Vater Steffen. „Deshalb sitzt sie heute so selbstbewusst da.“
Man ließ das kleine Mädchen während ihrer Frühförderung aus therapeutischen Gründen Schwimmen und zu Reiten. Aiga war begeistert. Schnell entdeckte sie, dass sie den Sport, die Bewegung, Schwimmen und Reiten liebte. „Es macht mich glücklich“, sagt sie.
Als das Reutlinger Schimmbad im Hohbuch schloss, erzählte Sabine Dörr Aiga und ihren Eltern von dem Fecht-Workshop der TSG Reutlingen. Die damals 16-Jährige war sofort begeistert. Der 11. Juni 2013 sei der Tag gewesen, der Aigas Leben veränderte, sagt sie. Sie sei sofort begeistert gewesen und habe nicht locker gelassen, engagiert gekämpft. „Danach hab ich erstmal geweint“, erzählt Aiga. „Vor Erschöpfung und Glück.“
„Frühchen können mehr“,
Der Trainerin war sie sofort aufgefallen: „Man merkt, dass Aiga sportlich aktiv ist und einen starken Willen hat“, sagte Simone Briese-Baetke, „und es ist einfach toll zu sehen, wie sie sich bewegt.
Man brauche zum Fechten eine gute Koordination zwischen Arm und Oberkörper, Konzentration, Kraft und Ausdauer. Der Rumpf werde stabilisiert. „Alles Voraussetzungen, um uns Rollstuhlfahrer mobil und aktiv zu erhalten“, sagt die Fechtsport-Trainerin.
Über den Workshop 2013, über Aiga, kam sie ebenfalls zum Frühchenverein, den sie seitdem mit viel Engagement unterstützt. „Frühchen können mehr“, sagt sie und sieht in Aiga eine Vorreiterin, eine Art Botschafterin mit Vorbildcharakter. „Sie zeigt allen, die mit Handicap geboren sind, wie es trotzdem geht.“
sagt die Trainerin und „Im Kreis fährt man auch auf dem Rollstuhl nicht.“
Im Sport gehe es nicht nur ums Gewinnen, so die Trainerin. Es gehe ums Annehmen, Tatkieren, ums Auseinandersetzen mit anderen Gegnern. Mit der Gesundheit. Im Zweikampf.
Simone hatte sich damals gewundert, wie das mit Rollstuhl und Fechten gehen sollte, erzählte sie von der Zeit, als sie begann, sich für den Sport zu interessieren. Eine Hand am Degen – eine Hand am Rollstuhl – „Fahre ich dann im Kreis?“.
Sie fuhr nicht im Kreis.
Für Rolli-Fechter gibt es spezielle Rollstühle. Sie stehen auf zwei Platten, die mit einer Zahnstange im richtigen Winkel und Abstand verbunden sind. Der Sport findet dann komplett mit dem Oberkörper statt. Treffer oberhalb der Gürtellinie werden bewertet, der untere Teil ist abgeschirmt.
Aiga trainiert für die Deutsche Meisterschaft 2016.
2016 findet die Deutsche Meisterschaft im Rolli-Fechten in Heidelberg statt. Aiga Weiß wird daran teilnehmen. Sie trainiert fleißig.
Steffen Weiß ist sicher, dass seine Tochter es schaffen kann. „Schaun wir mal“, sagt er.
Das Rollstuhl-Fechten findet montags von 17 bis 18.30 Uhr und freitags von 17 bis 19 Uhr in der Storlachhalle statt. In den Ferien ist die Halle geschlossen. Wer Lust hat, sich den Sport einfach mal anzugucken oder mitzutrainieren, ist herzlich eingeladen, vorbei zu kommen.